Dieser Flecken Erde ist mein Paradies
Text Daniel Röthlisberger, Fotos Christian Merz; Schweizer Familie 50/2024

Vor bald dreissig Jahren entfloh Gübi Luck dem hektischen Leben als Unternehmer. Seither wohnt er ob Chur – abgeschieden und bescheiden. Sein grösster Reichtum ist etwas, das vielen Menschen fehlt: Zeit.
Mit seinem dichten weissen Bart sieht er fast so aus wie der Druide Miraculix, der in den berühmten Comics an der Seite von Asterix gegen die Römer kämpft. «Ich bin ja auch ein alter Kelte», sagt Gübi Luck schmunzelnd. Sein Nachname bedeutet auf Keltisch Wald, auf Englisch Glück. Das passe perfekt. «Ich lebe im Wald und habe hier mein Glück gefunden.»
Seit bald drei Jahrzehnten wohnt Gubert Georg Luck in Brambrüesch oberhalb von Chur auf 1600 Metern allein und abgeschieden in einem kleinen Holzhaus. Früher hat er als Ingenieur Strassen gebaut, hat Hotels und Häuser errichtet. Er führte Unternehmen und beriet Firmen, war ein vielseitiger Sportler und ging als Alpinist an seine Grenzen. Mit 53 Jahren stellte er nach einer Scheidung sein Leben um und zog in die Einsamkeit. Heute ist Gübi Luck 81. Er lebt wie ein Einsiedler und ist doch kein Eremit. Als Bergführer leitet der Bündner Skitouren, als Künstler fertigt er Holzskulpturen. «Aus der Arbeit schöpfe ich Kraft. Aifach schaffe, waisch», sagt Luck und blickt von der Terrasse seines Hauses ins Schanfigg, zum Aroser Weisshorn und über sein Grundstück. «Dieser Flecken Erde ist mein Paradies.»

Gübi Luck ist an diesem wolkenlosen Morgen im November in seinem Paradies unterwegs. An den Füssen trägt er Crocs, in der Hand eine Stofftasche. Er stapft durch den Wald, lässt den Blick konzentriert über den Boden schweifen. Ein kurzer Jauchzer, dann kniet Luck sich hin. Birgt seinen kostbaren Fund. «Es sind Semmel-Stoppelpilze. Die sind herrlich, ob gekocht oder getrocknet.» Gübi Luck ist ein Sammler. Zwölf verschiedene Pilze findet dieser Kenner in seinem Hoheitsgebiet. Er pflückt Löwenzahn und Brennnesseln, macht Salat. Er sammelt Himbeeren und Heidelbeeren, kocht sie zu Konfitüre ein. Im Garten pflanzt er Kartoffeln und Gemüse. «Ich lebe vor allem von dem, was die Natur hergibt.» Bis vor kurzem besorgte Luck sich als Jäger auch das Fleisch, erlegte hie und da eine Gämse. «Fürs Jagen bin ich aber nicht mehr schnell genug», räumt er ein. Deshalb liefern ihm Kollegen das Wild.

Bereit für den Winterschlaf
Für die kommenden Wintermonate ist Gübi Luck gerüstet. Die Vorräte sind aufgefüllt, das Holz für den Kachelofen gehackt. Regelmässig wird sich nun eine dicke Schneedecke über die Landschaft und sein Haus legen. Er mag die kalte Jahreszeit, obwohl er dann oft Schnee räumen muss und die Temperatur in seiner Schlafstube nachts schon mal auf acht Grad sinkt. «Aber ich liebe die Stille, die mich umgibt», sagt Luck. «Dann bin ich nah bei mir, spüre eine tiefe Ruhe und einen inneren Frieden.» Er hat weder Fernseher noch Computer. Dafür einen Zuber im Garten. Den heizt er hie und da ein, nimmt ein Freiluftbad. Abends setzt er sich in der warmen Stube an den Tisch, liest einen alten Westernroman. Vertieft sich in ein Buch über die grossen Fragen des Lebens. «Ich mache mein Studium selbst», sagt er. «In Philosophie.»
In solchen Momenten schliesst sich der Kreis. Denn Philosophie studieren wollte Gübi Luck schon als Jugendlicher. Doch die Eltern drängten ihn zu einem technischen Beruf. Also absolvierte er eine Lehre als Tiefbauzeichner, liess sich am Technikum in Luzern zum Ingenieur ausbilden. Er machte im Tief- und im Hochbau Karriere, gründete eine Familie, wurde als Betriebsberater selbständig. «Ich packe ständig Neues an. Das ist mein Motor.»
Diese Neugier und die Furchtlosigkeit zeichneten ihn auch als Sportler aus. In jungen Jahren war er Kunstturner und Leichtathlet. Er fuhr Skirennen, machte Langlauf und Orientierungslauf, spielte Tischtennis. Am liebsten aber war Gübi Luck in den Bergen. Sie sind sein Element. Mit Kollegen schaffte er mehrere Erstbegehungen in seinem Heimatkanton. Überstand in steilen Wänden Steinschläge und Gewitterstürme. «Das Bergsteigen war meine Lebensschule », sagt er. Da habe er gelernt, Entscheidungen zu treffen und mit unwirtlichen Bedingungen umzugehen. Für ihn war der Sport aber auch Therapie. Denn er litt von Kindesbeinen an unter einer Verkrümmung der Wirbelsäule und unter Polyarthritis, einer Entzündung der Gelenke. «Beim Klettern konnte ich die Schmerzen vergessen.»
Schmerzlicher Neuanfang
Die mentale Stärke, die er am Berg trainierte, kam ihm nicht nur im Beruf zugute. Sie half ihm auch dann, als er privat mit seiner grössten Niederlage fertigwerden musste. Mit 53 zerbrachen seine Ehe und sein Familienglück. Luck verliess seine Frau und seine beiden Söhne und zog nach Brambrüesch ins Haus, das sein Vater 1949 gebaut hatte und in dem er als Kind die Wochenenden und die Ferien verbracht hatte. «Wenns nümme stimmt, denn muesch go», so kommentiert er die schmerzhafte Trennung heute. Mit seinem Entscheid hadert er längst nicht mehr. «Für mich war der Umzug auch eine Befreiung.» Und ein Neustart.
Seither führt Gübi Luck in der Abgeschiedenheit ein einfaches Leben. Er kauft nur das Nötigste im Tal ein, trägt im Alltag meist dieselben Kleider, fährt einen zwanzigjährigen Mercedes. «Aber Luxus habe ich trotzdem», sagt er. «Ich habe Zeit.» Obwohl er allein lebt, ist er nicht einsam. Gelegentlich schauen seine Söhne vorbei. Ab und zu kommen Freunde vom Tal herauf. Mit ihnen kann er stundenlang diskutieren. Manchmal stimmt er mit ihnen ein Lied an, gibt mit seinem Alphorn ein Ständchen. Alle paar Monate erhält Gübi Luck zudem hohen Besuch. «Ich liebe die Stille, die mich umgibt. Dann bin ich nah bei mir, spüre eine tiefe Ruhe und einen inneren Frieden.» Dann reist seine Freundin Monika aus Deutschland an, bleibt einige Tage oder auch mal ein paar Wochen. Er sei nicht nur ein Einzelgänger, betont er. «Ich geniesse die Gesellschaft. Aber ich bin froh, wenn mein Besuch auch wieder geht.»
«Ich liebe die Stille, die mich umgibt.
Dann bin ich nah bei mir, spüre eine tiefe
Ruhe und einen inneren Frieden.»
Gübi Luck, Bildhauer und Bergführer
Das sagt Gübi Luck ohne Ironie. Einer wie er braucht seine Freiheit. Sie ist wie die Luft zum Atmen, eine Quelle der Inspiration. Es ist kurz vor Mittag. Luck steht an einem Tisch im Garten. Er zieht die Schutzbrille an und startet den Motor. Mit runden Bewegungen führt er die Schleifmaschine über ein Holzstück. Feine Staubkörner wirbeln durch die Luft, tanzen im Sonnenlicht. Immer wieder setzt er die Maschine ab, wischt das Sägemehl weg, prüft mit der Hand die Form. «Das sind die Strahlen einer aufgehenden Sonne», erklärt er sein Werk. Seit vielen Jahren macht Gübi Luck auch Kunst. Sein Talent entdeckte er durch Zufall. Eines Tages nahm er ein Stück Holz zur Hand, begann es zu bearbeiten. Seither kommt er nicht mehr davon los. Mit der Motorsäge und der Schleifmaschine schafft er aus unterschiedlichen Hölzern Skulpturen – zuweilen sind es menschenähnliche Körper, oft aber auch abstrakte Figuren. «Ich gehe vom Wuchs des Holzes aus und lasse mich davon leiten.» Für Luck ist die Tätigkeit als Künstler wie Meditation. «Ich versinke in der Figur, vergesse die Zeit und manchmal auch mich selbst.»

Gübi Luck und Luzi Scherrer (Foto luzischerrer.ch)
Dieses Gefühl teilt er seit fünf Jahren mit einem Kollegen. Regelmässig arbeitet er mit dem Holzbildhauer Luzi Scherrer zusammen, sägt und schleift mit ihm am selben Werk. Luzi sei 33 Jahre jünger. Aber in der Kunst spürten sie den Altersunterschied kaum. «Wir haben dieselbe Philosophie, arbeiten Hand in Hand. Das ist ein Geschenk.» Luzi Scherrer bezeichnet Gübi als Lebenskünstler. Und als Freund. «Er hat einen trockenen Humor, ist offen und fadengerade», sagt Scherrer. «Vor allem aber ist Gübi glücklich mit dem, was er ist und tut.»
Seine Erfüllung findet dieser Glücksritter immer wieder in der Natur. Im Sommer ist er oft allein auf Wanderungen unterwegs. Im Winter leitet er als Bergführer Skitouren. Führt Kundinnen und Kunden durch die verschneite Landschaft am Julierpass. Viele halten ihm seit 25 Jahren die Treue. «Das ist das schönste Kompliment. » Wenn er seinen Gästen vorangeht, ist er in seinem Element und fühlt sich wie in der Kunst. «Ich achte auf die Harmonie und lege meine Spur so, dass sie das Bild der Landschaft nicht stört.»

Foto guebi-luck.ch
In solchen Momenten vergisst Gübi Luck – wie früher beim Klettern – alle seine Schmerzen. Und sein Alter. «Wenn ich mich bewege, fühle ich mich jung.» Ein Geheimrezept für seine Energie und seinen Tatendrang hat der Unermüdliche nicht. Er esse wenig, trinke hie und da einen Grappa oder ein Glas Wein. «Und ich lache viel, habe immer Pläne im Kopf.» So möchte er das Maiensäss, das er seit Jahren renoviert, fertigstellen. Gerne würde er im Bergell die Nordkante des Piz Badile hochklettern. Und dann hat Gübi Luck noch einen kleinen Wunsch. «Äs Troimli», wie er präzisiert. «Ich möchte in einem Film mitspielen.» Zwei Mal war er nah dran. 2015 durfte er für die Rolle des Alpöhi im Film «Heidi» vorsprechen, nachdem ihn Kollegen angemeldet hatten. Und kürzlich wurde er zum Casting für einen Ricola-Werbespot eingeladen. Beide Male gabs eine Absage. Vielleicht klappe es beim dritten Mal. «Ich müsste ja nur mich selbst spielen», sagt Gübi Luck mit einem verschmitzten Lächeln. «Einen alten Kelten mit weissem Bart.»
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Gübi Luck und Luzi Scherrer zeigen vom 13. bis 15. Juni 2025 in Trimmis GR eine Auswahl ihrer Bildhauerarbeiten aus Olivenholz.
