Permafrost ist der Kitt, der alles zusammenhält
(22.04.2024, Sarganserländer, Marius Kretschmer)
In der Val Roseg brachen Millionen Tonnen Gestein und Eis vom Piz Scerscen hinab ins Tal. Kann man dort weiter auf Touren? Bergführerinnen und Bergführer erklären die lauernden Gefahren.
Die Coazhütte thront majestätisch auf einem Felsplateau über dem Lej da Vadret am Hang des fast 3600 Meter hohen Piz Glüschaint. Wäre die Hütte schon vor 100 Jahren an dieser Stelle gebaut worden, wäre sie fast gänzlich vom Roseggletscher umgeben gewesen. Heute ist der Gletscher nur noch ein Schatten seiner selbst und laut Glaziologen wird er in Zukunft eventuell ganz verschwinden.
Der Rückgang der Gletscher ist eine der Folgen des Klimawandels, eine andere ist das zunehmende Auftauen des Permafrosts im Hochgebirge. Dies berge äusserst schwierig einzuschätzende Gefahren für Skitourengänger und Bergsteigende, erklärt Rita Christen. Die Bündnerin ist Präsidentin des Schweizer Bergführerverbands. «Wir haben kürzlich die Bergführer un- seres Verbands befragt, ob die Klimawandelfolgen ihre Berufstätigkeit erschweren – und das bejahen sie fast durchgehend», sagt sie. Laut ihren eigenen Beobachtungen treten Steinschläge und Felsstürze häufiger auf als früher.
Durch die steigenden Temperaturen nämlich tauen Gestein, Boden und Eis aus dem sogenannten Permafrost, einem stabilen Untergrund, der durchgehend unter dem Gefrierpunkt liegt. «Das ist sozusagen der Kitt, der alles zusammenhält – und wenn er taut, wird der Berg lockerer.» Allerdings wirkten auch ganz normale Gravitationskräfte auf die Berge ein. Es sei auch ohne Klimawandel in den Alpen schon immer zu Bergstürzen gekommen, «aber die Geologen sagen, dass sich die Frequenz erhöht, da die auslösenden Ereignisse wie Starkniederschläge oder Hitzesommer wie der letzte häufiger werden könnten», so Christen im Gespräch.
Informationen sind wichtig
Für Alpinistinnen und Alpinisten wird es nun noch wichtiger, Zugang zu guten Informationen über die Verhältnisse am Berg zu haben. «Wer eine Tour plant, kann sich online auf dem Tourenportal des Schweizer Alpen Clubs (SAC) die Verhältnismeldungen anschauen. Diese informieren darüber, wo es ungewöhnliche Ereignisse gab», so Bergführerpräsidentin Christen. Ihr Verband versuche, die Bergführer im Umgang mit den Klimawandelfolgen zu unterstützen. Das Thema werde in der Ausbildung behandelt, es seien spezielle Weiterbildungskurse geschaffen worden und man arbeite an einer verbandsinternen Plattform zum Austausch von Informationen.
Christen betont aber, dass trotz all dieser Bemühungen ein Ereignis wie der Bergsturz in der Val Roseg für die Bergführer und die Bergsteiger unvorhersehbar bleibe. «Einem Bergsturz gehen zwar oft kleinere Felsstürze voraus. So hat es ja auch in der Nordflanke des Piz Scerscen, am Piz Umur, ab Januar 2023 wiederholt Felsstürze gegeben.» Ein Bergsturz habe aber immer eine schicksalhafte Dimension, denn ohne aufwendiges, technisches Monitoring könne niemand vorhersagen, wann genau so ein Ereignis stattfinde.
Touren werden angepasst
Die Informationen über die Ereignisse am Piz Umur sind für alle öffentlich auf der Website des Schweizer Alpen Clubs (www.sac-cas.ch) einsehbar. Die Bergsteigerschule Pontresina habe daraus etwa die Konsequenz gezogen, den Normalzustieg, der über den Eselsgrat auf den Piz Roseg führt, nicht länger anzubieten, erklärt Marcel Schenk, Technischer Leiter der Schule: «Die aktuellen Ereignisse verschlechtern die Situation noch.» Stand jetzt sehe es so aus, als sei es nicht länger empfehlenswert, den Piz Roseg von der Tschiervahütte aus zu begehen. «Gesperrt wird aber nichts», so der Bergführer. Wer sich unsicher über eine Route sei, könne bei der Bergsteigerschule nachfragen.
Aber was ändert sich konkret? Bergführer Schenk kennt das Gebiet gut, kann aber bisher nur Prognosen abgeben. Das Bergsturzgebiet werde vor allem im Sommer genutzt, deshalb gebe es dort keine direkten Folgen für den Skitourentourismus. Auch der Zustieg zur Tschiervahütte scheint laut Schenk derzeit nicht beeinträchtigt zu sein. Aufgrund möglicher Nachstürze wird aktuell vor einem Zustieg gewarnt.
Coazhütte ist erreichbar
Anders sieht es aber bei der Coazhütte aus. Diese ist derzeit via Val Roseg und Lej da Vadret nicht erreichbar. Die Coazhütte könne jedoch auf Skiern problemlos über den Corvatsch oder Fuorcla Surlej erreicht werden, «ohne in einen Gefahrenbereich zu gelangen », sagt Schenk. Im Sommer führen auch Wanderrouten am Hang oberhalb der Verschüttung zur Coazhütte hinauf.
Eine Einschränkung gibt es laut Markus Locher, Sektionspräsident Pontresina/ St. Moritz des Bündner Bergführerverbands, jedoch. Manche geplante Skitour müsse eventuell angepasst werden, da die einfache Abfahrt von der Coazhütte durch die Val Roseg nicht möglich sei, da die Schuttablagerung des Bergsturzes einem den Weg versperrt.
«Es gibt aber gute Möglichkeiten, dem auszuweichen. Man kann auch Richtung Sils über die Val Fex oder über den Corvatsch abfahren.» Dazu ist aber ein Gegenaufstieg nötig. Grundsätzlich würde Locher nicht von einem Besuch der Coazhütte abraten – die von dort ausgehenden beliebten Touren, etwa Chapütschin, Sella oder Marinella seien nicht vom Bergsturz betroffen: «Die Hüttenwartinnen und -warte wissen Bescheid und informieren ihre Gäste.»
Wer sich den spektakulären Bergsturz ansehen will, sollte sich auf keinen Fall ins Gefahrengebiet begeben. «Wer sich mit Ereignissen dieser Art auskennt, weiss, dass es immer gefährlich ist, einfach dorthin zu gehen», sagt Bergführer Locher. Was man gut machen könnte, ist, sich das Ganze vom Corvatsch, von der Fuorcla Surlej anzuschauen. Locher: «Von dort hat man einen super Blick in die Val Roseg, ohne sich in Gefahr zu bringen.»