Wie die Bündner 1824 den Tödi eroberten
Im Kanton Glarus wird in den kommenden Monaten die Erstbesteigung des Tödi vor genau 200 Jahren gefeiert. Als Pioniere standen damals allerdings zwei Gämsjäger aus der Surselva auf dem Gipfel.
(Jano Felice Pajarola, Sarganserländer, 16.04.24)
Zugegeben, Tödi ist nicht gleich Tödi. Es gibt zum Beispiel den Glarner Tödi, den Chli Tödi oder den Bündner Tödi, der allerdings – im Gegensatz zu den anderen beiden Tödis – gar nicht zum eigentlichen Tödi- Massiv gehört. Das Tödi-Massiv wiederum hat drei Hauptgipfel: den Sandgipfel, den erwähnten Glarner Tödi und den Piz Russein. Und exakt um ihn, trotz seines offiziellen romanischen Namens der «Tödi par excellence », geht es dieses Jahr beim grossen Glarner Jubiläum «Tödi 200», das am Montag in Linthal den Medien präsentiert wurde.
Grenzfall: Ein Halbbündner
Genau zwei Jahrhunderte sind vergangen seit der Erstbesteigung des höchsten Gipfels der Glarner Alpen. Allerdings: Der Tödi alias Piz Russein steht auf der Kantonsgrenze, er ist ein Halbbündner. Und die, die als Erste oben waren – notabene Jahrzehnte, bevor andere namhafte Schweizer Berge erstmals erklommen wurden –, waren zwei Vollblutbündner: die Gämsjäger Placi Curschellas aus Trun und Augustin Bisquolm aus Disentis. Sie kamen selbstverständlich von der Bündner Seite her. Und waren unter Anleitung einer Persönlichkeit unterwegs, die ebenfalls aus der Surselva stammte: Pater Placidus a Spescha (1752 – 1833).
Der Disentiser Benediktiner und Alpinismuspionier hatte schon zahlreiche Gipfel bestiegen, mehrere davon als Erster überhaupt. Am Piz Russein allerdings war der Pater schon fünfmal gescheitert,zuletzt im August 1823.Ein Jahr später,am 1. September 1824, hatte er seinen Diener Carli Cagienard und die erwähnten Gämsjäger dabei. Spescha selbst, nun bereits 72 Jahre alt, sollte es auch diesmal nicht auf den Gipfel schaffen – aber Curschellas und Bisquolm schon. «Auch der sechste Versuch lief fruchtlos ab», notierte Spescha später, «allein mein Ziel ist doch erreicht worden, und ich danke Gott dafür.»
Speckschwarte statt Steinmann
30 Minuten seien seine beiden Begleiter auf dem Piz Russein gewesen, «sie beklagten sich sehr über das Atemholen, Verfinsterung der Augen und Schwindel», so der Pater. Zum Beweis ihrer Anwesenheit auf dem Gipfel hätten sie einzig die Schwarte eines Stücks Speck zurücklassen können, «da sie weit und breit keine Steine fanden, um einen Steinmann aufzurichten ». Was wohl mit dazu beigetragen haben könnte, dass die Erstbesteigung des Piz Russein lange Zeit umstritten blieb. Auch Bergsteiger von der Glarner Seite reklamierten sie für sich, 1861 zum Beispiel Rudolf Theoder Simler, den dieses Bergerlebnis immerhin zur Gründung des Schweizer Alpen-Clubs SAC animierte. Spätestens Anfang des 20. Jahrhunderts schafften verschiedene Publikationen dann aber endgültig Klarheit und sprachen die Erstbesteigung Curschellas und Bisquolm zu.
«Mit der damaligen Ausrüstung war das eine Topleistung», meint der Disentiser Bergführer Paul Degonda zur Pioniertat der beiden Gämsjäger von 1824. «Die Route war sicher noch viel stärker vergletschert, und sie hatten viel weniger Ahnung davon, wie man sich auf dem Firn bewegen muss. Es war unerforschtes Gelände, sie kannten weder den Weg noch die Spalten. Vermutlich hatten sie nicht mal Steigeisen. » Tatsächlich schrieb der Pater selbst zum Versuch von 1823, seine kleine Gruppe sei nur «mit beschlagenen Stöcken und Füssen» auf dem harten Schnee unterwegs ewesen. «Das war wohl das Hauptproblem», mutmasst Deonda. «Dafür waren sie aber wohl sehr trittsicher.»
Der Bergführer kennt den Aufstieg bestens, er war in den etzten 30 Jahren schätzungsweise um die 50 Mal auf dem Piz Russein, wie er erzählt. «Im Sommer gilt die Tour heute technisch als ‹wenig schwierig›», so Degonda. Die Gletscher an der Strecke hätten sich stark zurückgezogen, eine heikle Felspassage sei mit Ketten versehen, an denen man sich sichern könne. Und natürlich gibt es inzwischen auf Bündner Seite die Puntegliashütte des SAC, von der aus man den fünfbis sechsstündigen Aufstieg zum Gipfel starten kann. «Wer genügend fit ist und Erfahrung mit Steigeisen und am Seil hat, für den ist die Tour geeignet.»
Glaubwürdige Augenzeugen
Natürlich bekommt man aber heute nicht mehr eine Zeitungsmeldung wie anno 1824. «Den 1. Sept. d. J. ist der Piz Russein, eine der drei höchsten Bergspitzen unseres Kantons, von zwei Gemsjägern aus dem Hochgericht Dissentis erstiegen worden», mit «zwei glaubwürdigen Männern» aus Trun als Augenzeugen, so der Berichterstatter. «Zwar öfters versucht, aber stets misslungen, war diese Bergspitze bis dahin von keinem menschlichen Wesen erklommen worden.»
Jubiläumsevents auch in der Surselva
Einige Anlässe des Glarner Programms «Tödi 200» finden auch in der Surselva statt. So wird der Historiker Renzo Caduff am 9. August in der Halle Cons in Disentis über Pater Placidus a Spescha referieren, und das musikalische Jubiläumstheaterstück «Speck auf dem Tödi» mit Gian Rupf und Fränggi Gehrig wird am 27. Oktober im alten Schulhaus in Cumpadials (Sumvitg) zu sehen sein.
Die romanische Filmemacherin Bertilla Giossi begleitet zudem mit der Kamera zwei Besteigungen des Piz Russein, eine von der Bündner und eine von der Glarner Seite her; als Bündner sind Aluis Tambornino und Flurin Maissen aus Trun mit dabei. Der um weitere «Tödi-Geschichten» ergänzte Film wird am 25. August und am 1. September auf SRF ausgestrahlt. Weitere Informationen finden sich auf toedi200.ch. (jfp)