Ein Tag im Leben eines Bergführers
Christian «Hitsch» Zinsli (55) ist Bergführer aus Leidenschaft. Seine Arbeit ist gefährlich, ein dramatischer Unfall forderte einst fast sein Leben. Ans Aufhören denkt er trotzdem nicht.
Mein Wecker läutet im Winter zu einer anderen Zeit als im Sommer. Im Winter ist es um 5.30 Uhr, im Sommer kann es auch mal um 2.00 Uhr morgens sein. Wenn’s warm ist, müssen wir früher los, sonst wird es zu heiss.
Als Erstes nach dem Aufstehen mache ich meine Übungen, um die Gelenke und Muskeln zu mobilisieren. Seit meinem Unfall mache ich sie regelmässig. Dann schaue ich, dass meine drei Töchter aufstehen, um rechtzeitig in der Schule zu sein. Ich mag die Ruhe am Morgen, dazu ein Stück Brot mit Alpkäse und einen guten Kaffee.
Sind alle versorgt, gehe ich die Tourenplanung nochmals durch. Ich checke die Lawinen- und Wetterprognosen und fahre mit dem Auto zum Treffpunkt. Dort überprüfe ich als Erstes die Ausrüstung und bespreche die Tour. Wo liegen die Schwierigkeiten, auf was müssen wir achten?
Ich will auch spüren, wie die Menschen ticken. Jede Tour, jede Gruppe, jeder Gast ist anders. Es gab schon Gäste, mit denen es am Berg nicht funktionierte. Die Chemie muss stimmen. Wenn man sich nicht zu hundert Prozent vertrauen kann, wird es schwierig.
Auch wichtig herauszufinden ist, wie «parat» die Teilnehmenden sind. Wir kennen es schliesslich alle – an manchen Tagen geht ein Aufstieg einfacher als an anderen. Das einzuschätzen, ist für mich manchmal schwierig. Wenn die Gäste fragen «Wie lang geht’s noch?» oder «Wie schwierig ist das Gelände?» gibt es oft keine klare Antwort, weil diese von ihnen abhängig ist.
«Fordern, aber nicht überfordern – das ist ein schmaler Grat»
Auf Touren sehe ich mich als Risikomanager. Wir sind in den Bergen unterwegs, was sowieso nie völlig ungefährlich ist. Es besteht immer ein Restrisiko, das mache ich den Gästen auch klar. Sicherheit ist darum das höchste Gebot, ich will ihnen aber auch etwas Exklusives bieten. Einige wollen ihre Grenzen spüren, andere einen noch unbefahrenen Hang hinabfahren. Fordern, aber nicht überfordern – das ist ein schmaler Grat.
Auch das Zeitmanagement ist extrem wichtig. Dauert die Tour zu lange, kann das Wetter umschlagen oder ein Gast ist plötzlich am Anschlag. Aufsteigen ist das eine, die Gäste müssen aber noch die Kraft haben, um runterzufahren. Es ist eine rollende Planung, in die ich Zeit, Witterung, Vervhältnisse und die Kräfte der Gäste einbeziehen muss.
Auf meinen Touren gab es aber leider auch einmal einen tragischen Unfall. Dabei starb ein Gast, er wurde von einer Lawine verschüttet. Ich versuche, aus Unfällen zu lernen, hinterfrage mich oft, manchmal ist es aber schlicht und einfach nicht zu verhindern. Egal, wie gut du betreust und wie gut du vorbereitet bist. Das Restrisiko bleibt. Damit muss ich in meinem Beruf leben. Trotzdem würde ich nichts anderes machen wollen.
«Aufgewachsen bin ich – zum Glück – in den Bergen»
Als ich jung war, hatte ich aber noch andere Pläne. Aufgewachsen bin ich – zum Glück – in den Bergen, auf einem Bauernhof. In Thalkirch. Zuhinterst im Safiental. Eigentlich wollte ich Bauer werden, ich habe aber zwei ältere Brüder, die den Hof übernommen haben. Ich wusste also, dass ich etwas anderes machen muss. Oder darf.
Ich habe Landmaschinenmechaniker gelernt, wusste aber damals schon, dass ich eigentlich Skilehrer werden wollte. Später habe ich dann – nach dem Skilehrerpatent – auch die Ausbildungen zum Bergführer und zum Industriekletterer abgeschlossen. In der Zwischensaison arbeite ich für die RhB, für das Tiefbauamt oder die Wasserwerke. So verdiene ich genug, um die Rechnungen zu bezahlen.
Und auch als Bergführer gibt’s genügend Arbeit, es zieht immer mehr Menschen in die Berge. Im Sommer ist das Fenster für Hochtouren aber sehr klein, ich muss darum sehr flexibel sein. Meine Familie sogar noch mehr als ich. Dass meine wunderbare Frau das mitmacht, ist nicht selbstverständlich. Ihr bin ich sehr dankbar.
«Der Unfall hat mich natürlich geprägt»
Ich habe einen riskanten Beruf, das ist mir bewusst. Trotzdem hat meine Familie keine Angst um mich. Das hat sich auch seit dem Unfall nicht verändert. Ich ging damals – am 21., nein am 22. Juli 2009 – mit einem Gast in die Dolomiten, auf den Langkofel. Der Aufstieg verlief ohne Probleme, aber beim Abseilen verfing sich das Seil. Also bin ich nochmals hoch, der Gast hatte mich gesichert. Vom Moment an, als ich das Seil befreite, weiss ich nichts mehr.
Offenbar hatte sich eine Felsplatte gelöst. Ich stürzte 25 bis 30 Meter in die Tiefe und schlug sitzend auf dem Boden auf. Ich hatte über 30 Knochenbrüche, der Aufprall hatte mich an der Hüfte regelrecht gespalten. Die beiden Lungenflügel waren beinahe vollständig kollabiert, die Schulter, der rechte Arm und das rechte Bein waren gebrochen und übel zugerichtet. Ich brach mir das Brustbein, alle Rippen, vier Lendenwirbel und alle Halswirbel.
Am zweiten Tag im Spital war man dann zuversichtlich, dass ich überlebe. Trotzdem lag ich zehn Tage im künstlichen Koma. Am 1. August bin ich dann erwacht, am 20. gings in die Reha nach Valens. Da war ich bis Oktober.
Anfang Dezember ging ich dann heimlich – nur für mich – wieder ein erstes Mal auf die Loipe. Ein paar Tage später ging ich dann – wieder heimlich – auf die alpine Piste. Das war meine Therapie, physisch wie psychisch.
Ende Winter machte ich wieder einfache Skitouren, im Sommer ging dann auch das Klettern wieder. Mein Körper hatte keine bleibenden Schäden, aber der Unfall hat mich natürlich geprägt. Seither mache ich die Übungen am Morgen und bin vielleicht noch dankbarer, dass ich diesen Beruf machen darf.
«Ich brauche diesen Ausgleich, das ist meine Therapie»
Dankbarkeit ist ein gutes Stichwort. Viele Gäste sagen am Nachmittag nach der Tour «Danke». Es ist schön, ihnen so ein Erlebnis zu ermöglichen. Das freut mich jedes Mal.
Wenn die Skitour zu Ende ist, verabschieden wir uns und ich muss dann noch etwas für mich machen. Meist habe ich meine Langlaufski im Auto oder im Sommer das Mountainbike. Ich brauche diesen Ausgleich, das ist meine Therapie, um den Kopf frei zu bekommen.
Wenn ich am Abend nach Hause komme, werden Familienangelegenheiten geklärt, Kinder vom Skitraining abgeholt, bei Hausaufgaben geholfen und die Büroarbeit gemacht. Ich bin selbstständig, die Büroarbeit gehört darum dazu. Auch wenn ich sie nicht sehr gerne mache.
Irgendwann esse ich dann noch etwas, schaue die «Tagesschau» und «Meteo». Im Winter geht’s oft um 22.00 Uhr ins Bett, im Sommer – wenn ich früh raus muss – um 21.00 Uhr. Aber lieber früher als später. Erholung ist sehr wichtig, für Körper und Geist.
Ich werde jetzt dann 56 und will Bergführer bleiben, solange ich motiviert bin und der Körper mitmacht. Es ist mein Traumjob, aber halt nur, wenn diese zwei Faktoren stimmen – Körper und Motivation.
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Der Bergführer Christian Zinsli lebt mit seiner Familie in Masein.
Er ist Verbandsangehöriger des SBV.